Die Organgymnastik- zwischen Tradition und Moderne
Die Organgymnastik ist heute fester Bestandteil des Lehrplans der Medau-Schule, der Berufsfachschule für Physiotherapie, Gymnastik, Logopädie und Ergotherapie sowohl in der Ausbildung zum/r Physiotherapeuten/in als auch zum/r Gymnastiklehrer/in. Doch was verbirgt sich hinter dieser auf den ersten Blick eher merkwürdig klingenden Begrifflichkeit: Organgymnastik?
Eine kurze Einführung in die Entstehungsgeschichte kann das Geheimnis lüften. Die Organgymnastik ist in den fünfziger bis Mitte der sechziger Jahre von Senta und Hinrich Medau an der Medau-Schule als ganzheitliche Bewegungserziehung entwickelt worden (vgl. Medau 1983, S. 174; Medau 1987, S. 9; Gutsche 1989, S. 14).
Im Fokus ihrer Untersuchung, die in Zusammenarbeit mit Dr. Ludwig Schmitt und Dr. med. Friederike Richter erfolgte, stand die wechselseitige Wirkung zwischen Bewegung und Atmung. Das daraus entwickelte didaktische Modell, die Methodik und ein Übungskanon/-abfolge wurden als konstanter Bestandteil in die damalige rhythmische Gymnastik integriert (vgl. Gutsche, S. 13 f.; Medau 1987, S. 9).
Die ursprünglich nicht zu therapeutischen Zwecken entwickelte Organgymnastik diente zunächst als eine spezielle Methodik der Körperbildung mit dem Ziel der Unterrichtung von verschiedenen Altersgruppen (vgl. Braithwaite, S. 33). Erst die Betrachtung der Organgymnastik im Zusammenhang mit Hatha-Yoga führte innerhalb der Gesellschaft zu einer indirekten Abwägung hinsichtlich der Intention und des Nutzens der neuen, noch fremdartigen, aber dennoch an Bedeutung zunehmenden Methodik. Bereits zu diesem Zeitpunkt wandte sich die Organgymnastik mehr und mehr den therapeutischen Aspekten zu und ebnete allmählich den Weg zur späteren Integrierung der Gymnastikausbildung in die Physiotherapie. Bis heute ähneln viele organgymnastische Übungen dem Hatha-Yoga (vgl. Medau 1987, S. 9). Lesen Sie dazu mehr in der nächsten Ausgabe. Schmitt und Medau waren sich einig, die elementare Verbindung besteht in der Atmung (vgl. Medau 1987, S. 9). Obgleich ein Grundbedürfnis, erfolgt die Atmung doch unbewusst. Bereits das Ehepaar Medau hat die wechselseitige Beziehung der Atmung und Bewegung erkannt. Bis heute ist Bewegung ohne Atmung nicht denkbar (vgl. Haring 2019, S. 16) und beeinflusst diese, ohne das willentliche Eingreifen des Menschen (vgl. Faller 2019, S. 10).
Die Organgymnastik als spezifische und ganzheitliche Bewegungs- und Atemarbeit (vgl. Medau, Anschütz, Bühlmeyer 2003, S. 7) beinhaltet neben Dehn- und Kräftigungsübungen auch Gleichgewichtsaufgaben, die die Atmung beeinflussen und gleichzeitig die Konzentration auf die eigene Person und den Körper vertiefen (vgl. Gutsche 1989, S. 14). Die Atmung fließt bei allen Bewegungen kontinuierlich und begrenzt individuell die Dauer der Bewegungsausführung automatisch. Nach anstrengender Bewegung u. a. in der Fortbewegung erfolgt im Anschluss daran reflektorisch ein vertiefter Atemzug. Das Bewusstsein und der Fokus auf die Atmung sind ständig gegeben. Es handelt sich dabei nicht um eine hörbare oder übertriebene Aus- oder Einatmung (vgl. Medau, Anschütz, Bühlmeyer 2003, S. 11).
Warum der Name Organgymnastik?
Ursprünglich basierte die Bezeichnung Organgymnastik auf der Annahme, dass insbesondere Dehnungsübungen im Sinne einer eher statischen Dehnung eine vertiefte Atmung indiziert und dies wiederum einen positiven Einfluss auf die Funktion der Organe nimmt (vgl. Medau 1987, S. 9). Medau und Schmitt sprachen von einer Atemdruckwelle, die die Organfunktionen positiv beeinflusst. Diese Begründung entbehrt heute der experimentellen und theoretischen Erklärung. Mehrere Versuche, den Begriff Organgymnastik zu präzisieren und zu aktualisieren, scheiterten bis heute mangels adäquater Ersatzbegriffe, ähnlich wie die in Großbritannien verwendete Übersetzung Medau-Breathing-Movement (vgl. Braithwaite, S. 33). Der sich bereits in den achtziger Jahren entwickelnde und bis heute gültige Weiterentwicklungsprozess bestätigt nach wie vor die Erkenntnis, dass insbesondere die Organgymnastik sich positiv auf den gesamten Organismus der Lernenden auswirkt (vgl. Medau 1987, S 9). Ein weiterer Erklärungsversuch steht im engen Zusammenhang mit der Lunge als dem zentralen Organ für die Aufnahme von Sauerstoff. Somit ist die Lunge als Organ ausschließlich für die Atmung verantwortlich und in Kombination mit der Bewegung Gymnastik auch für die Namengebung verantwortlich.
Ganzheitlicher Ansatz der Organgymnastik
Der Ansatz des Ehepaares Medau zur ganzheitlichen Bewegungserziehung ist auch aktuell noch in der Organgymnastik grundsätzlich vertreten. Jedoch hat diese v. a. mit der seit 1979 bestehenden integrierten Ausbildung zum Physiotherapeuten zunehmend therapeutischen Charakter angenommen. Zur Schaffung einer aussagekräftigen Erklärungsgrundlage der Organgymnastik kann das heutige bio-psycho-soziale Modell der ICF, International Classification of Function, Disability and Health (vgl. Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte 2022), das u. a. Anwendung in der Physiotherapie findet, herangezogen werden.
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